Language

Form for quick search

Auf der Suche nach der Wahrheit

bramall02
Foto: Lutz Edelhoff | Anthony Bramall

Ein Gespräch mit dem Dirigenten Anthony Bramall

Wir treffen den international bekannten britischen Konzert- und Operndirigenten Anthony Bramall am 2. Januar 2025 auf der Probebühne des Theaters Erfurt. Dort erhalten wir einen kurzen sängerischen Einblick in die Proben zu Puccinis Gianni Schicchi, bevor wir in ein persönliches Gespräch einsteigen.

„Ein Dirigent ist immer auf der Suche nach der Wahrheit. Man will wissen, was der Komponist gewollt hat. Man ist eine Art Anwalt des Komponisten: Ein Anwalt sagt vielleicht nicht eins zu eins, was der Mandant sagt, aber er handelt immer in dessen Interesse“, sagt Bramall.

Anthony Bramall ist durch seine bemerkenswerte musikalische Vielseitigkeit international bekannt geworden, vor allem als Interpret des Deutschen Repertoires, von Wagner und Strauss sowie von Mahler und Bruckner. An Opernhäusern wie der Semperoper Dresden und dem Nationaltheater München gelang ihm der Durchbruch mit Opern von Rossini und Puccini. Durch zahlreiche Gastspiele in den USA, Japan, den Niederlanden, Schweden, Mexiko, Polen, Rumänien, der Slowakei und Österreich hat er seinen Horizont stetig erweitern können.

In Erfurt debütiert er mit dem italienischen Doppelabend von Mascagnis Cavalleria rusticana und Puccinis Gianni Schicchi. Beide Werke hat er bereits vor mehr als 20 Jahren dirigiert und stellt heute fest, dass sich im Vergleich zu damals nicht nur die Hörgewohnheiten, sondern auch das Tempo der Partituren verändert haben. „Das Leben wird generell immer schneller“, sagt Bramall, der seit 2008 ein Nomadenleben führt, wie er selbst beschreibt. Seinen Lebensmittelpunkt hat er gemeinsam mit seiner Frau in Karlsruhe. Gestern ist er in Erfurt angekommen, morgen geht es weiter nach München. Durch das Pendeln und die intensiven Vorbereitungs-, Proben- und Auftrittszeiten in verschiedenen Städten fehlt ihm oft die Zeit, seine neue Umgebung zu erkunden oder seiner Leidenschaft – dem Kochen – nachzugehen. „Man jongliert mit mehreren Produktionen gleichzeitig“, sagt Bramall. Um dabei nichts zu vermischen, schreibt er sich alles auf, zum Beispiel Änderungen in der Methodik. Liegen die Stücke allerdings länger in der Vergangenheit, wie bei Cavalleria rusticana oder Gianni Schicchi, versucht er das Stück nicht anhand seiner Aufzeichnungen zu reproduzieren, sondern es neu zu denken und zu verstehen: „Ich weiß, dass ich mich verändert habe, dass sich die Welt verändert hat und dass sich die Rezeption der Stücke verändert hat“.

Die größte Herausforderung für einen Dirigenten besteht heute darin, zu verstehen, warum ein Stück so geschrieben wurde, wie es in der Partitur steht. An vielen Stellen soll beispielsweise extrem langsam gespielt werden, was heute nicht mehr gemacht wird. Es geht vor allem darum, das Tempo giusto (ital. „richtiges Tempo“) zu finden: „Ist es gut, klebt es, huscht es zu sehr und versteht man den Text noch?“. Für Bramall besteht die Kunst darin, die Absichten des Komponisten zu verstehen und das korrekte Tempo dafür zu finden: „Welches Gefühl, welche Stimmung soll erzeugt werden und wie schaffe ich es, diese Emotionen dem heutigen Publikum zu vermitteln?“. Um das herauszufinden, beschäftigt er sich wochenlang intensiv mit der Kulturgeschichte und den Lebensumständen des jeweiligen Komponisten, liest zahlreiche Beiträge, auch von den Assistenten der Komponisten, die wiederum ihre eigenen Beobachtungen bei Aufführungen festhielten, und schaut sich Interpretationen anderer Dirigenten an.

„Orchestermusiker sind heute alles Virtuosen, sie können alles spielen, doch was sie fühlen sollen, ist sehr subjektiv. Jeder Ton hat eine emotionale Bedeutung, und diese Dramaturgie versuche ich in den Orchestergraben zu bringen“, sagt Bramall. Mit der Qualität des Philharmonischen Orchesters Erfurt ist er sehr zufrieden. Er schätzt auch den hervorragenden und sehr positiv eingestellten Chor und die Solistinnen und Solisten. Sie verfügen über beeindruckende Fähigkeiten und zum Teil über Weltstimmen: „Und ich habe in meinem Leben schon viele gute Sängerinnen und Sänger gehört“.

Am 1. Februar 2025 findet die Premiere des italienischen Doppelabends statt. Es ist die Spitze des Eisbergs, die das Publikum erlebt, wenn der Dirigent im Frack vor dem Orchester steht und sich bewegt. Erst dann entfaltet sich der besondere Zauber, der die Vorstellung zu einem unvergesslichen Kunsterlebnis macht.

Wir bedanken uns für das spannende Gespräch und freuen uns auf insgesamt sieben Abende voller Tragödie und Komödie.

bramall03
Probe "Gianni Schicchi“ | Foto: Lutz Edelhoff | Candela Gotelli als Lauretta